Bergsagen


König Laurins Rosengarten

Das herrlichste Wahrzeichen des Dolomitenlandes hat die Natur selbst erbaut, den Rosengarten, dessen Felstürme und Wände in unvergleichlicher Formenschönheit aus dem Wäldermeer der Bozner Berge aufragen. Im Tageslicht, im Sonnenglanz steht der Rosengarten wie eine Geisterburg aus der Urzeit unserer Erde, sein eigenstes Leben erwacht erst um die Dämmerstunde. Da erglühen die schlanken Türme und Zinnen in überirdischem Purpurleuchten, das erst im hereinbrechenden Abend erlischt. 
Dieses Alpenglühen des Rosengartens, der in solchen Stunden wie eine geheimnisvolle Himmelsfackel über dem Schatten der Täler in heller Lohe brennt, ist in aller Welt berühmt und erscheint auch den Menschen unserer Tage wie ein Abglanz der alten Heldensage, die ihre unverwelklichen Blüten um dieses wunderbare Felsgebilde rankt.

In uralter Zeit, da Riesen und Zwerge die Alpentäler bevölkerten, herrschte im Innern des Berges, den wir heute Rosengarten nennen, Zwergkönig Laurin über ein unterirdisches Reich. Des kleinen Fürsten Rüstung blinkte von hellem Golde, seinen Helm zierte eine funkelnde, edelsteinbekränzte Krone, er ritt auf zierlichem, weißem Zelter, der nicht größer war als ein Reh, und trug, wenn er zum Kampfe ritt, einen Speer, an dem ein seidenes, wappengeschmücktes Fähnlein flatterte. Laurin besaß aber auch geheimnisvolle Kräfte; seine Tarnkappe machte ihn unsichtbar, und ein juwelengeschmückter Gürtel gab dem Zwergenkönig die Stärke von zwölf Männern.Laurins Stolz war ein wunderschöner Garten vor dem Tore seiner Felsenburg, in welchem das ganze Jahr hindurch unzählige prachtvolle Rosen blühten und ihren Duft ausströmten.

Dieser Rosengarten war mit goldenen Fäden eingezäunt und nur durch ein enges goldenes Pförtlein zu betreten. Streng wachte der kleine König über die Unversehrtheit seines Gartens; wer mutwillig in das Gehege einbrach und auch nur eine der Rosen pflückte, verlor zur Strafe die linke Hand und den rechten Fuß. 
Auf einer seiner geheimen Fahrten, die er, in der Tarnkappe unsichtbar, durch die Lande unternahm, erblickte Laurin einst auf einem Blumenanger vor der Burg zu Steier Kühnhilde, des Schloßherrn Tochter, in ihrer jugendlichen Schönheit. Das Herz des Zwergenfürsten entbrannte in Liebe zu dem holden Menschenkinde. Laurin schlich sich an Kühnhilde heran, nahm sie flugs unter seine Tarnkappe und entführte die nun Unsichtbare durch die Luft in sein unterirdisches Schloß im Rosengarten. 
Auf der Steirerburg herrschte Schrecken und Trauer, denn niemand wußte, wohin die schöne Kühnhilde plötzlich entschwunden war. Endlich machte sich der junge Ditleib von Steier auf, um die Schwester zu suchen, und kam auf abenteuerlicher Fahrt auch an den Sitz des Gotenkönigs Dietrich nach Bern (Verona). Der hörte im Kreise seiner Freunde, des alten Hildebrant, seines Waffenmeisters, dessen Neffen Wolfhart und des Recken Wittich, die Erzählung Ditleibs und beriet mit seinen Mannen, was da zu tun sei. Da meinte Hildebrant, Kühnhildes Räuber könne nur der Zwergkönig Laurin sein, der allein die Tarnkappe besitze und sich damit den menschlichen Blicken entziehe, den müßte man in seinem Felsenschloß aufsuchen. Dietrich, der trotz seines Waffenruhmes noch nie gegen Zwerge gekämpft hatte, war schnell zur Fahrt bereit und lud die Freunde ein, ihm ins Rosengartenland zu folgen. 
Tag um Tag ritten der Berner und seine Getreuen nordwärts, bis sie am Zusammenfluß von Etsch und Eisack zum erstenmal aus dem Hintergrund der Täler den Rosengarten leuchten sahen. Begeisterung und Kampfeslust beflügelte die Recken, die nach langer Fahrt endlich an dem goldenen Pförtlein des Gartens hielten. Während Dietrich in Staunen über die Pracht der Rosen versunken war, zerhieb der ungeduldige Wittich mit einem Schlag seines Schwertes die goldenen Fäden, trat in rohem Ungestüm das goldene Türlein in den Boden, köpfte die herrlichen Rosen und zerstampfte blindwütend den Gartengrund. 
Da sprengte auch schon auf weißem Rößlein König Laurin heran, in Gold gewappnet und gerüstet und bebend vor Zorn über den Frevel, der an seinen Rosen geschehen. Mit zürnenden Worten warf er den beiden Helden die Untat vor und forderte von ihnen als Vergeltung Hand und Fuß.Dietrich wies solch grausames Verlangen ab, bot aber Laurin reiche Gold- und Silberspende, um seinen Zorn zu besänftigen. Doch der Zwerg bestand auf seinem Pfand. Nun griff Wittich trotz der Warnung Dietrichs zu den Waffen; er führte einen gewaltigen Schwerthieb gegen Laurin, verfehlte aber sein Ziel und wurde selbst vom ersten Speerstoß des kleinen Königs aus dem Sattel geworfen. Schon stürzte sich Laurin auf seinen Gegner, um ihm Hand und Fuß zu nehmen, da fiel ihm Dietrich in den Arm, der solche Schmach seines Freundes nicht duldete. 
Jetzt wandte sich der streitbare Laurin gegen den Gotenkönig, und nun hub ein heißer, ungleicher Kampf an. Denn plötzlich wurde Laurin unsichtbar; der Zwerg hatte sich die Tarnkappe über den Helm gestülpt, daher trafen Dietrichs Schwertstreiche nurmehr die leere Luft. Erbittert warf der Berner seine Waffe zu Boden und begann mit dem unsichtbaren Gegner zu ringen. Schon ermattete der Held, da erfaßte seine Hand ganz von ungefähr die Tarnkappe Laurins, riß sie ab, und nun stand der Kleine wieder sichtbar vor Dietrich. Im gleichen Augenblick packte der Berner den Zwerg um die Mitte, schwang ihn am Zaubergürtel in die Luft und schmetterte Laurin zu Boden, so daß der Gürtel zerbrach und in Dietrichs Händen blieb. 
Nun, da seine übernatürlichen Kräfte von ihm gewichen, lag Laurin kraftlos am Boden und flehte seinen Bezwinger um Schonung an. Doch der kampfesheiße Dietrich hätte den Zwergenkönig getötet, wenn nicht Ditleib, der die geliebte Schwester ohne den Zwerg nie zu befreien hoffen durfte, den Berner um Gnade für Laurin gebeten hätte. 
Noch aber war Dietrichs Kampfeslust nicht erloschen; unmutsvoll wandte er sich gegen Ditleib, und schon kreuzten die beiden Recken ihre Klingen, als Hildebrant, Wolfhart und Wittich die Kämpfenden trennten und zur Eintracht mahnten. Als nun auch Laurin seine kleinen Hände den siegreichen Gegnern zur Versöhnung reichte und sie zum Besuch seines Königsschlosses einlud, herrschte nach heißem Streit wieder Frieden im Rosengarten. 
Unter der Führung des Zwergenkönigs traten die Recken durch eine Felsenpforte ein in das wunderbare Reich Laurins. Herrlich prangte im Innern des Berges der Thronsaal, aus Marmor, Gold und edlen Steinen erbaut. Laurins Gefolge, zierlich gewappnete Zwergenritter und winzige Edelfrauen, begrüßten die Berner Helden nach höfischer Sitte. Und dann trat aus goldener Tür Kühnhilde hervor, prächtig geschmückt als Braut des Zwergenkönigs. Als die Maid Ditleib unter den Gästen erblickte, flog ein Leuchten über ihre Züge, sie umarmte den geliebten Bruder und gestand ihm unter Tränen ihr Leid. Wohl werde sie im Zwergenreich als Königin geehrt, Laurin gewähre ihr jeden Wunsch, sie aber könne des kleinen Fürsten Liebe nie erwidern und sei daher trotz aller Pracht und Herrlichkeit im tiefsten Herzen glücklos.
Leise versprach Ditleib der teuren Schwester die Befreiung, doch gebot er ihr vorerst strengstes Stillschweigen.
Laurin lud nun seine Gäste zu Tisch, hieß sie die schweren Rüstungen ablegen und als Ersatz kostbare Gewänder anziehen. Arglos tafelten die Helden und ahnten nicht, daß der tückische Zwerg ihnen betäubende Säfte in den Trank gemischt. Einer nach dem anderen, zuletzt auch Dietrich, sanken, von der Kraft des Weines überwältigt, zur Erde. Laurin ließ nun triumphierend die wehrlosen Helden fesseln und in einen Kerker werfen, ihre Waffen verwahrte er in einem abgelegenen Gemach.

Diese arge Tat berichtete ein treuer Zwergendiener heimlich Kühnhilde. Sogleich entschloß sie sich, den Bruder und die Freunde aus schmachvoller Haft zu retten. Kühnhilde eilte zum Kerker, öffnete sein verriegeltes Tor und löste zunächst die Fesseln Ditleibs. Inzwischen war auch Dietrich aus seiner Betäubung erwacht und fühlte sich, zum ersten Male in seinem Leben, in Banden. Da schlug der Zorn des Berner in hellen Flammen aus seinem Munde, daß die ehernen Fesseln an Händen und Füßen schmolzen. Ditleib hatte inzwischen mit Kühnhildes Hilfe die Waffen der Recken herbeigetragen, und nun umgürtete Dietrich sich und seine Freunde, um an dem verräterischen Zwergenvolk blutige Rache zu nehmen. Das Geklirr der Waffen weckte nun auch Laurin, der alsbald mit schmetterndem Hornstoß die Kriegsscharen seiner Zwerge herbeirief. Es begann ein furchtbarer Kampf der Berner Helden gegen den Zwergenkönig und die Seinen. Tausende von gefallenen Zwergen deckten den Boden der Halle, aber auch Dietrich und seine Waffengefährten bluteten aus vielen Wunden. Als sich die Scharen der Zwerge immer mehr lichteten, ließ Laurin fünf Riesen aus den Wäldern am Fuße des Rosengartens aufbieten.

Aber auch dies half nichts mehr, denn die Berner Helden töteten in heißem Kampfe auch die Riesen. Die Entscheidung fiel jedoch erst, als es Dietrich endlich gelang, sich Laurins zu bemächtigen und ihn gefangenzunehmen. Nun war die Herrlichkeit des Zwergenfürsten für immer zu Ende.All seiner Macht und seiner Zauberkräfte beraubt, mußte Laurin seinen Verrat schwer büßen. In Ketten wurde er nebst vielen Wagen voll Gold und Silber von den Siegern nach Bern geführt und mußte dort am Hofe Dietrichs schmachvoll dienen.
Kühnhilde aber trat befreit aus dem Berge in die Helle des Sonnenlandes und ritt beglückt an Ditleibs Seite heim nach Steier.
Seither ist Laurins Rosengarten verwandelt; die Glut der Rosen erlosch, ihr Duft verwehte, und nur riesige, nackte Felsentürme ragen zum Himmel. Wo einst der herrliche Garten geblüht, leuchtet heute noch am Fuße der Laurinswand das "Gartl", ein heller Schuttfleck, der in einen kleinen See mündet, und von dem der Schnee oft nicht ganz schmilzt. 
Zur Abendzeit glüht der ganze Berg auf im Widerschein der sinkenden Sonne und spiegelt in seinem Leuchten die Sage von König Laurin und seinem Rosengarten.

 

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